Warum dieses Buch entstand

 

Wer lebt nicht mit seiner Familiengeschichte.

Bei mir erzählte sie von Welten, die mir genauso fremd und abenteuerlich, mal spannend und traurig, mal witzig und aufregend erschienen, genauso fern wie jene aus Tausendundeiner Nacht, von Odysseus oder der kleinen Hexe. Fremde Welten, Fantasiewelten.

Sie erzählten von Herrenhäusern in parkähnlichen Gärten, von Tennisspiel und Hausmädchen. Von jener sagenumwobenen Stadt Breslau, die es so heute nicht mehr gebe, ganz wie Atlantis schien mir. 

Und von ganz anderem. 

Von einer Flucht, die doch einem Abenteuer glich. Oder etwa nicht?

Von meiner Großmutter Käthe, die die drei Töchter mit dem letzten Zug aus Breslau herausbringen konnte.

Von meiner Mutter, die als Fünfjährige die Nächte im Stall des Bauern, wo man einquartiert war, unter ‚Kuhbeschuss’ erlebt hat. Der als Kleinsten ab und an von der bayerischen Bäuerin einer ihrer bis heute geliebten ‚Klöße’ angeboten wurde, so dass sie als einzige der Schwestern nicht so unter dem Hunger litt und glatt zehn Zentimeter größer wurde als die in ihrer Pubertät hungernden älteren Schwestern.

Von Schulspeisung, die meiner Mutter grauenhaft schien und die die Prügel der älteren Schwester nach sich zog, wenn sie es wagte, den schrecklichen Schleim zurückgehen zu lassen. Von in die Kleidersäume eingenähtem und so geschütztem Schmuck auf der Flucht.

Erst viel später, als ich langsam zu begreifen begann, dass diese Geschichten nicht aus der Sagenwelt stammten, wurde mir mit der Beschäftigung an all diesen historischen Geschehnissen erst klar, was man mir nicht erzählt hatte.

Mein Großvater Günter Less, der, neben Richter und Professor, als großartiger Erzähler und Autor mir das Literarische nahegebracht und vererbt hat, der uns Enkelkindern zwar über alle möglichen Geschehnisse erzählt hatte, aber, was mir nun erst auffiel, nichts vom Krieg. 

Meine Großmutter Käthe, die doch heldenreich ihre drei Töchter aus Breslau rettete und mir damit mein Leben ermöglicht hat. Und, wenn auch nicht so, nicht aus demselben Grund wie meine Käthe im Roman, für diese Kriegszeiten mit einer tiefen Traurigkeit zahlen musste.

Nicht erzählt über Tote, nicht über Judendeportationen, nicht über Hunger. So vieles nicht erzählt.

Und ich lebte mit einer Elterngeneration, der Sicherheit und Wohlstand das Wichtigste war, wichtiger als alles andere. Was oft auch die Grundlage des Zwistes unserer Generationen war. 

Weit später las ich zum ersten Mal den Begriff der ‚Nebelkinder‘, der aus der Psychologie entstanden ist und derzeit in diversen Richtungen untersucht wird. Die Nebelkinder - das ist meine Generation. Das bin ich. Jene Generation, die lange nach dem Krieg geboren worden ist. Nichts, rein gar nichts mehr damit zu tun hat. Oder? 

Traumata werden vererbt, rein körperlich, genetisch, epigenetisch, das weiß man heute. Doch viel mehr noch stochern wir, meine Generation der Kriegsenkel, im Nebel, permanent, im Nebel all des Nichtgesagten. Wir können nicht verstehen, warum unsere Großmütter manchmal zusammenzucken, wenn sie Männer sehen; warum es keine Vergewaltigungen gab, die doch nahezu alle Frauen mit damals sogenanntem ‚Ostkontakt‘ getroffen hat. Und viele, viele mehr. Wir können auch nicht verstehen, warum Sicherheit wichtiger ist als Lebensgenuss, jener sogar verboten. Stattdessen sollen wir ständig ‚dankbar‘ sein, es geht uns doch so gut. Wir sollen das Glück verkörpern, das den vorherigen Generationen verwehrt blieb. Die Last ist zu groß. Wir sind die Generation der Depressiven. 

Als mir dies alles langsam klar wurde, wusste ich es: darüber möchte ich schreiben. Über drei Generationen, drei Frauen, deren Lebensgeschichten untrennbar miteinander verwoben sind, und der Krieg, der bewusst oder vielmehr unbewusst noch heute unser Leben überschattet.

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